Kislew


Schriftum und Lehre Israel's

Kislew — Minoritäten in der Geschichte

enter image description here Von Rabbiner Samson Raphael Hirsch

Die Minorität — Minoritäten in der Geschichte. — Die Regel der Mehrzahl im Gesetze. — Umfang und Grenze des Majoritätsprinzips. — Licht- und Schattenseiten der Minoritätsstellung.

Ihr seid die Minorität — — אתם המעט‎ —

»Ihr seid die Minorität!« hören wir nicht selten uns entgegenhalten, »Ihr seid die Minorität!« — Ob wir es wirklich sind, ob in der großen Gemeinde der allzerstreuten Israeliten Gesamtheit die Bekenner des alten Gesetzes der Kinder Israel's in der Tat heutzutage die Minderzahl bilden, wir wissen es nicht, wir glauben es nicht einmal. Da man uns jedoch dafür hält — und in gewissen, bestimmten Kreisen sind wir ja unleugbar die Minorität, — da man unsere Sache damit in den Augen unserer jüngeren Zeitgenossen zu diskreditieren strebt, — hält sich doch der Gedankenlose am meisten geborgen, wenn er dem breitgetretenen Geleise der Menge folgt, — und da wir endlich, wie bemerkt, in bestimmten, einzelnen Kreisen unleugbar die Minderzahl bilden — so ist ja wohl Veranlassung genug, darauf einzugehen und einmal ernst und ruhig unsere Lage und unsere Aufgabe von dem Standpunkte einer Minorität aus zu würdigen, und zu ermitteln, wie viel Wohl oder Wehe, wie viel Niederschlagendes oder Ermutigendes in dem Bewußtsein liege: zur Minorität zu gehören, vor allem aber sodann uns klar zu machen, welche Gefahren wir zu vermeiden, welche Pflichten wir zu erfüllen haben, wenn wir denn von der Gegenwart irgendwo und irgend einmal auf den Standpunkt einer Minorität uns zurückgedrängt erblicken. Bringt uns doch ohnedies dieser Monat das Makkabäer-Fest des Sieges der ‏מעטים‎ über die ‏,רבים‎ der Minorität über die Majorität, weil es ‏טהורים‎ gegen ‏טמאים‎ waren, weil es der Sache der Gesetzestreue gegen den Abfall galt, und kann keine Stimmung geeigneter sein, die Vorteile, Gefahren und die eigentümliche Aufgabe einer Minorität in dem rechten Lichte zu betrachten, als eben die, die der Geist eines solchen Erinnerungsfestes über uns verbreitet.

1.

Wir sind also die Minorität; wohl! Sollen wir darum unserer eigenen Sache mißtrauen, an unserer eigenen Sache verzweifeln? Lasset uns sehen! Sind es die quantitativ größeren Massen, denen wir überall die edleren, wichtigeren, zukunftreicheren Zwecke und Tätigkeiten überantwortet sehen? Ist es vorzugsweise das Unedlere, Bedeutungslosere, das der Verkümmerung und dem Vergehen Anheimfallende, für welches wir das massenhaft Geringere überall als Träger und Werkzeug erblicken? Und waren es die Majoritäten und Minoritäten, die uns die Geschichte unserer Vergangenheit als die jedesmaligen Retter unserer Zukunft verkündet?

Welch’ eine verschwindende Größe ist die Masse der Knospen, der Blüten, des Samens, des Samenstaubes gegen die Masse der Zweiges der Äste und des Stammes; und wo haben wir die Zukunft des Baumes, wo die edleren, weitreichenden, zweckschasffenden, zukunftbauenden Tätigkeiten zu suchen, im massigen Stamme, oder im Kreise der stoffarmen, schwachen, kleinen, zarten Blüte und ihrer verduftenden Genossen?

Welche Majoritäten und Minoritäten erscheinen uns im Wunderbau des menschlichen Organismus! Welche Majoritäten und Minoritäten, wenn wir die Träger des Empfindens, Wahrnehmens, Denkens, Wollens, Bewegens, Lebens, der Masse des übrigen Leibes gegenüber messen und wägen — etwa wie 7 zu 1 steht die Masse des Fleisch- und Knochenleibes zur Masse des Blutes, wie 30 zu 1 zur Masse des Gehirns, wie 200 zu 1 zur Masse des Herzens, und nun gar zur Masse eines einzelnen, das Hören, das Sehen bedingenden Nerven. Hat der Schöpfer des Menschenorganismus Majoritäten oder Minoritäten zu Trägern des Lichtes und des Lebens bestellt, zu Werkzeugen der Erkenntnis und der Empfindung, zu Wahrern und Bildnern jedes göttlichen Gedankens und jeder Gott nachstrebenden Regung berufen, hat er Majoritäten oder Minoritäten die Wartung und Pflege, die Verwirklichung und Vollendung des Höchsten im Menschen anvertraut —?

Und nun gar die Geschichte! Unsere Geschichte! Mit welcher Minorität beginnt unsere Geschichte! Welch’ eine Minorität unter allen Minoritäten hatte sich der Hort Israels und der Menschheit herausgegriffen und auf sie, auf diese kleinste, winzigste aller Minoritäten, Israels und der Menschheit ganze Heileszukunft gelegt! Die Gesamtmenschheit und — Abram: Da habt ihr eine Majorität und Minorität! »Abram der Ibri« — ‏,כל העולם כולו מעבר אחד והוא מעבר אחר‎ wie R. Jehuda dieses Epitheton deutet — die ganze Welt auf der einen Seite, die ganze Welt auf der Seite polytheistischer Lüge und Entartung, und er allein auf der andern, er allein auf der Seite der Wahrheit und Reinheit bei seinem Gott! — Und nach einem solchen Anfang wollt ihr von Majorität und Minorität im Israelitentume reden?

Und nun weiter nach Abraham, in welch’ kleine Kreise blieb Geschlechter hinab die Erkenntnis des Wahren und Guten geflüchtet, mit welch’ kleinen Minoritäten muß sich noch Jahrhunderte hindurch die Wahrheit begnügen, deren endliche Bestimmung das Bereich der Gesamtmenschheit ist und die, wie sie mit der kleinsten aller kleinen Minoritäten, mit der Überzeugung eines einzigen Mannes begonnen, ihr Ziel nicht erreicht hat, solange sie nicht die größte aller großen Majoritäten, so lange sie nicht das Herz aller Menschen für sich gewonnen! Jahrhunderte hindurch sieht sie sich noch nur von einem einzelnen Hause, von einer einzelnen Familie — Isaak, Jakob — gekannt, anerkannt und vertreten, und als diese Bekenner der härtesten Probe in dem Schmelzofen der Knechtschaft, des Drucks und der Verhöhnung hingegeben werden sollten, zählte ihre Minorität nicht mehr als 70 Seelen! Ja, so sehr, scheint es fast, soll die Geschichte des Reichs der göttlichen Wahrheit auf Erden es von vornherein an der Stirne tragen, daß sie des materiellen Übergewichts der Massen nicht bedarf, daß sie selbst innerhalb ihrer kleinen Minorität die materiell bevorzugten Persönlichkeiten — die Ältesten, Erstgeborenen — übergeht und ihre Träger, Vertreter und Verfechter in den Jüngeren, Nachgeborenen findet. Nicht Ismael: Isaak, nicht Esau: Jaakob wird Fortträger des göttlichen Bundes. Nicht Reubens, des Erstgeborenen, Josefs des Jüngeren, Scheitel schmückt der Kranz des göttlichen Wohlgefallens. Selbst Moses war der Jüngste unter den von Gottes Geist berührten Geschwisterm und David — »der Kleine«, Jüngste, Letzte unter den kraftstrotzenden Söhnen Jsais!

אתם המעט, Ihr seid die Minorität, sprach Gott zu Israel, als er‏ ‎es als sein Volk in den Kreis der Völker einführte und auch in‏ ‎Israel waren es meist nur Minoritäten, die seine Sache in Israel und‏ ‎Israel für seine Sache retteten. Moses mit seinen Leviten beim gol‎denen Kalbe, Josua und Kaleb bei den Kundschaftern, Pinchas mit‏ seinem Feuereifer, die Richter und Retter alle, die Gott seinem Volke in Zeiten des Verfalls weckte, Jerubaal, der seines Vaters Baalsaltar umstürzte und dann mit den 300 Nichtknieenden Israels Rettung vollbrachte, Obadja, Achabs Haushofmeister, der an Isabels Hof der Gottessache lebte und der Propheten des Herrn Retter ward, Elijahu am Karmel, Elischa und die Dreitausend, deren Knie sich nicht dem Baal gebeugt und deren Mund nicht den Baal geküßt, alle Propheten, alle die Männer, die Gott »mit der Macht seines Geistes erfaßte und sie zurückhielt, nicht in dem Weg der Masse zu gehen und zu ihnen sprach: Nennet nicht Verrat, was dieses Volk Verrat nennt, und was es fürchtet, fürchtet nicht und haltet nicht für stark! ’‏ד’ צבאו‎ Den heiliget, Er sei, was ihr fürchtet, Er, was euch Kraft und Stärke gibt!« (Jesaias K. 8). Sie alle und Esra und Nechemia und die Männer der großen Versammlung, die »der Gotteserkenntnis und der Gesetzesverehrung die alte Krone wieder verschafften« (Jona 69), und Mathithjahu und sein Haus, die ihr Volk vor dem Untergehen ins hellenische Unwesen retteten, — was waren sie anders, als kleine, winzige Minoritäten, die den Mut hatten, der großen, bedeutenden Volksmajorität gegenüber Opposition zu machen und, Gott und der Wahrheit ihrer Sache vertrauend, in der Zuversicht lebten und starben, für diese Majorität selber, jedenfalls aber für deren Nachkommen die heilige Gottessache durch ihre Treue und Festigkeit siegreich hinüber zu retten?

Und für die Gegenwart, für die fernere Zukunft? Schlaget doch die Bücher der Propheten auf, sind es Majoritäten, auf die sie für die fernen und fernsten Zeiten die Hoffnungen ihres Volkes, die Siegeszuversicht ihrer Gottessache bauen?

»Ein armes und erschöpftes Volk lasse ich in dir übrig, die werden ihre Zuversicht setzen in den Namen: Gott! Jsraels Rest wird kein Unrecht üben, und keine Täuschung reden, in ihrem Munde wird sich keine Sprache des Truges finden, denn sie, sie werden weiden und ruhen und Keiner stört.« (Zephanja.)

»Ihr sagt, Torheit ist’s, Gott zu dienen, was kommt dabei heraus, wenn wir sein Gebot beachten und wenn wir trüb und ernst in Angst vor Gott wandeln, die Mutwilligen preisen wir glücklich u. s. w.. Da sprachen sich Gottesfürchtige einer gegen den andern aus und Gott merkte auf und hört und es wird ins Gedächtnisbuch vor ihm verzeichnet, für die Gottesfürchtigen und Denker seines Namens. Und das werden die Meinen für die Zeit, da ich mir einen Kern bilde u. s. w.« (Maleachi.)
— — — — — Die Schweinefleisch essen und verworfener Speisen Brühe in ihren Geräten haben und dabei sprechen: bleibe für dich, komme mir nicht nahe, denn ich bin heiliger als du, die sind Dampf in meinem Zorne, loderndes Feuer jeden Tag! — — — Wie man Most in der Traube findet und spricht: vernichte sie nicht, es ist noch Segen daran, so tue ich auch um meiner Diener willen, um nicht alles zu verderben, und entwickele noch aus Jaakob eine Saat und aus Jehuda einen Erben meiner Berge, meine Erwählten werden es erben und meine Diener dort wohnen — — — Ihr aber, die ihr Gott verlasset, meines heiligen Berges vergesset, die ihr dem Glücke den Tisch decket und der Bestimmung Trankopfer füllet, Euch u. s. w. (Jesaias K. 65.) — — — Höret das Wort Gottes, die ihr ängstlich seinem Worte zustrebet! Eure Brüder, die euch hassen und verachten, sagen freilich: »wegen meines Ansehens wird Gott geehrt!« In eurer Freude wird Er sich zeigen und sie werden beschämt. Hört ihr die Stimme des Aufruhrs aus der Stadt, die Stimme aus dem Tempel? Es ist Gottes Stimme, der seinen Feinden Vergeltung lohnt u. s. w. Wie ein Mann, den seine Mutter tröstet, so tröste ich euch und in Jeruschalaim findet ihr Trost. Ihr sehet es, und es geht euch euer Herz auf u. s. w. Denn siehe, in Feuer kommt Gott und wie Sturm seine Gespanne u. s. w. u. s. w. Die sich eine Heiligkeit, eine Reinheit erträumen, den Lustgefilden nach, der weiblichen, abhängigen zwischen Gott und Menschen gestellten Menschen (Welt-)Einheit nach, Schweinefleisch essend, Wurm und Nagetier, sie nehmen zusammen ein Ende, spricht Gott u. s. w. (das. K. 66.) — — — Meinen Leib gab ich den Schlägern, meine Wange den Raufern, hab’ mein Angesicht nicht vor Schimpf und Speichel geborgen, und Gott, wird mir beistehen, darum scheute ich mich nicht, darum machte ich kieselfest mein Angesicht, wußte ich doch, ich würde nicht zu Schanden u. s. w. u. s. w. Wer darum unter euch, der gottesfürchtig und seines Dieners Stimme gehorsam, im Dunkel wandelt und ihm kein Lichtstrahl leuchtet, er vertraue auf den Namen: »Gott«, und stütze sich auf seinen Gott u. s. w. u. s. w. (Das. K. 50.) Schauet hin auf den Fels, aus dem ihr gehauen, und auf den Bornhammer, mit dem ihr gegraben, schauet auf Abraham hin, euren Vater, auf Sara, die euch gebären sollte: es war eben nur ein Einziger, den ich berief, auf daß Ich ihn segnen, Ich ihn wollte viel lassen werden! (Das. K. 51.) — — — Nur ein Rest wird zurückkehren, ein Rest Jaakobs zum allmächtigen Gott, (Das. K. 10). — — — Noch ist ein gottgeweihtes Zehnt darin, werde es auch wieder und wieder der Vernichtung, wie Eiche und Buches, die wie Blätter-Abwurf den Stamm doch bewahren, so bleibt Heiligtumssaat sein Stamm! (Das. K. 6.) — — Einen aus der Stadt und Zwei aus der Familie nehme ich euch und bringe euch nach Zion und gebe euch Hirten nach meinem Herzen, die weiden euch mit Erkenntnis und Verstand! (Jeremias K. 3.) — — —
und die israelitische Sache, die Saches des israelitischen Gottesgesetzes wäre verloren, wenn nur noch eine Minorität ihm ihre Treue bewährte, es dürfte der letzte, vereinzeltste Israelite verzweifeln und nicht auf Abraham hinschauen, der auch nur Einer war, als Gott ihn rief, auf Moses nicht, auf dessen Treue allein zuletzt Gott noch seinem Gesetze wieder das Volk der Verheißung erbauen wollte? Das Gottesgesetz zählt seine Anhänger nicht!

Nicht? Lehrt denn nicht eben dieses Gottesgesetz: ‏,אחרי רבים להטות‎ »Entscheide nach der Mehrzahl!« heiligt es nicht eben diesen Grundsatz des Majoritäts-Ausschlages als das wichtigste, unerschütterliche Prinzip des ganzen von ihm errichteten Gebäudes! Müssen wir nicht der Mehrheit folgen? Ist nicht ‏יחיד ורבים הלכה כרבים‎ schwindet nicht die Einzelansicht in die Ansicht der Mehrheit und verdankt nicht eben diesem Prinzip das Israelitentum seine Einheit und Festigkeit, seine Reinheit und Dauer? Und es bräche nicht eine solche Minorität wie ihr eben in demselben Momente den ersten Grundsatz des Gesetzes, für dessen Unverletzlichkeit sie der Majorität gegenüber in die Schranken träte?

Gemach, gemacht Freilich lehrt dieses Gesetz: ‏אחרי רבים להטות‎ aber unmittelbar zuvor warnt es: ‏לא תהיה אחרי רבים לרעות‎ »folge nicht der Majorität zum Bösen!« und hat eben damit jenem Majoritätsprinzip die Grenze gezogen, über welche hinaus es aus einem Grundsatz des Heiles sich zu einem Prinzipe des Bösen umwandelt und statt eines Werkzeugs der Erhaltung als ein Mittel der Zerstörung und des trostlosesten Unterganges sich darbieten würde. Ja wohl hat die Minorität der Majorität sich zu fügen. Wann? Wenn beide, Majorität und Minorität, auf gleichem Boden der Gesetzlichkeit stehen, wenn beide mit gleich hingebender Treue das göttliche Gesetz als die einzig geltende Norm über sich anerkennen, wenn ‏,אלו ואלו דברי אלדי' חיים‎ wenn es sich innerhalb des Gesetzes um Entscheidung aus dem Munde eines Tribunals, dessen Glieder durch Kenntnis und Charakter in gleich berechtigter Kompetenz dastehen und über Fragen handelt, hinsichtlich deren eben dieses Gesetz die Majoritätsentscheidung funktioniert. Wenn es sich aber um Sein oder Nichtsein des Gesetzes selber handelt, wenn Dinge in Frage gestellt sind, die eben innerhalb dieses Gesetzes über alle Fragen erhaben sind, wenn der Majorität der Abfall vom göttlichen Gesetze beliebt, die Minorität auf dem Boden des göttlichen Gesetzes verharrt, da heißt es: ’‏,אין חכמה ואין עצה ואין תבונה נגד ד‎ gegen Gott gilt keine Weisheit und keine Klugheit und keine Einsicht, gegen Gottes Gesetz kein Lehrer und Priester, keine Majorität und keine Minorität, ‏במקום שיש חלול השם אין חולקין כבוד לרב‎ und ‏,קשר של רשעים אינו מן המנין‎ die größte Vereinigung von Gesetzesübertetern ist eine völlig verschwindende Größe auf der Wagschale der Gewissensentscheidung.

Aber wir tun euch Unrecht, wenn wir euch vom göttlichen Gesetze Abgefallene nennen, eure Orakel lehren euch aus dem Gesetze selber die Selbstentthronung dieses Gesetzes, lehren euch unter dem Banner der Thora den am Sinai geschworenen Fahneneid brechen, — wohl, mag darüber euch und eure Orakelspender — Gott richten. Uns zeigt ihr eben mit diesem eurem »Prinzipe« die tiefe Kluft, die uns von einander trennt, zeigt uns, wie wir längst schon nicht mehr aus gleichem Boden des Gesetzes zusammenstehen, zeigt uns, wie wir längst bereits an den Punkt gekommen sind, wo wir die Stimmen nicht mehr zählen dürfen, wo uns — verzeiht, wir können nicht anders — das alte Gesetz vom Sinai zuruft: »Folgt nicht der Majorität zum Bösen!« ‏לא תהיו אחרי רבים לרעות — — —

So sehr verzweifelt steht’s also wohl noch um keine Sache der Wahrheit und des Rechts, wenn sie auch zeitweilig nur eine Minorität zu ihren Trägern findet, wenigstens liegt in diesem Minoritätsverhältnis kein Grund zur Verzweiflung und am allerwenigsten dürfte so ohne weiteres eine jede Majorität zu einer jeden Minorität in jeder Sache auf ihre Mehrzahl pochend, sprechen: Ihr habt mit euren Ueberzeugungen und Ansichten kein Recht, keine Berechtigung, ihr seid die Minderzahl, ihr müßt euch, fügen. Israels ganze, mehr als vierthalbtausendjährige Geschichte ist hierfür Bürge, sie ist ja nichts, als die Geschichte der siegreichen Ausdauer einer winzigen, ohnmächtigen Minorität gegenüber der immensen Übermacht einer Majorität, die nicht weniger als die ganze übrige Gesamtmenschheit zu ihren Gliedern zählt.

2.

Allein eben die Tatsache, daß sich der Vater der Menschheit für das Kleinod seiner die Menschheit erlösenden Wahrheit eine so winzige Minorität zu Trägern erkoren, berechtigt zu der Annahme, es müsse die Sache der Wahrheit in dem Schoße einer Minorität sich in ihrer Existenz und in ihrem endlichen Siege nicht nur nicht gefährdet sehen, vielmehr eben dort Bedingungen ihrer Pflege und Erhaltung finden, deren eine erst zum Kampf und Siege berufene Wahrheit inmitten zahlreicher widerstrebender Elemente so sehr bedarf, die ihr aber im Schoße einer Majorität seltener und jedenfalls in geringerem Maße zu erwarten stünden. Kurz, wir glauben uns berechtigt, uns nach den günstigen Verhältnissen umzuschauen, die sich eben im Schoße einer Minorität für die sichere Pflege der Wahrheit als vorhanden darstellen dürften, glauben uns fragen zu dürfen: was liegt in einer Minoritätsstellung Günstiges für die Sache der Wahrheit, die sie trägt?

Und da treten uns sogleich zwei der bedeutendsten Momente entgegen:

»In dem Schoße einer Minorität findet die Wahrheit immer 1) treuere Pflege und 2) reinere Träger!«

Eine siegreiche Majorität wird zu allererst ihrer eigenen Sache untreu. Sie hat gesiegt, sie ist die Mehrzahl, ihre Sache ist geborgen, sie ist ihr etwas Abgemachtes, Zurückgelegtes, — Zurückzulegendes; anderen Bestrebungen, anderen Erkenntnissen mögen fortan Geister und Gemüter sich zuwenden; die alte Wahrheit, für die sie so viel gekämpft, so viel gerungen, deren Sieg so viel gekostet, steht nun sicher unter dem Palladium einer Majorität; von ihrer weiteren geistigen Pflege ist nichts mehr zu erwarten, sie ist über alle weitere Anfechtung erhaben, die Majorität steht ja für sie ein, und — gibt sie eben damit selber preis. Die Majorität vergißt, daß sie ihren Sieg nur der Sache verdankt, sie wähnt, die Sache habe nur ihr, nur der Mehrzahl ihren Sieg zu verdanken, es genügt ihr, fortan die Zahl ihrer Anhänger zu erhalten, zu vermehren; der geistige Gehalt der siegreichen Wahrheit wird nicht mehr angebaut, wird vergessen; als Wortschall, als Name steht sie noch auf dem Majoritätspanier gezeichnet, geht sie noch, als äußere Erkennungsparole, von Generation zu Generation; ihr Inneres ist aber hohl oder oft von mißgestalteten Larven ihres Gegenteils erfüllt; für die Geister und Gemüter ist sie verloren, — ihr Sieg hat sie begraben.

Treten wir dagegen in den Kreis einer Minorität — dort ist die Sache alles, muß sie alles sein; denn wenn ihnen die Sache entschwände, was bliebe ihnen übrig? Nur in dem geistigen Wert ihrer Sache vermag eine Minorität den gegenwiegenden Ersatz für das zu gewinnen, was ihr an materieller Zahlengröße abgeht; nur in dem lebendigsten Bewußtsein eben dieser ihrer geistigen Bedeutung vermag sie jenes Selbstgefühl sich zu erringen, das zu jeder spezifischen Fortexistenz so notwendig ist. Das Dasein der Minorität ist daher wesentlich daran geknüpft, daß sie in allen ihren Gliedern stets den ganzen geistigen Fonds der von ihr vertretenen Sache wach halte, und wie der Leib zu seinem lebendigen Dasein des Atmens bedarf, so muß die Minorität in jedem Augenblick aufs neue sich die frische Begeisterung, den frischen Mut, die ausdauernde Kraft und die im engen und engsten Kreis sich auslebende Energie des Geistes und Herzens aus dem geistigen Born ihrer Sache schöpfen. Ja eben der Gegensatz zur Majorität treibt sie von selbst dazu, immer neu sich in den geistigen Gehalt ihrer Sache zu versenken, sie immer neuer Forschung zu unterziehen, ihren Inhalt nach allen Seiten hin immer aufs neue zu verfolgen, sie immer neu in ihren Einzelheiten, wie in ihrer Gesamtbedeutung sich zum Bewußtsein zu bringen und sich immer neue Antwort auf die alte, sie seit ihrem Auftreten notwendig begleitende Frage zu schaffen: warum denn nicht auch zur Fahne der Majorität schwören, warum denn nicht auch dorthin übertreten, wo die Zahl und die Macht und das materielle Übergewicht glänzt? Nie wird eine Minorität ihre Sache nur zu dem geistigen Standesgut weniger Eingeweihten machen wollen, ohne ihre ganze Existenz aufs Spiel zu setzen. Wie sie den geistigen Strom der Erforschung und Erkenntnis bei ihren Gliedern hemmt, gibt sie dieselben dem Absterben und dem welken Hinüberfallen in den Schoß der zu jeder Aufnahme stets bereiten Majorität haltungslos preis. Zur geistig-wachen Selbsterkenntnis muß sie ihre Glieder erziehen, wenn sie die ihrigen bleiben sollen, ein jeder muß sich selbst sagen können, wofür er einsteht und wofür er duldet. Und wie den Geist, so vor allem muß sie den Mannescharakter in jung und alt groß zu ziehen verstehen, der nicht nur Wahres zu erkennen, sondern die erkannte Wahrheit um jeden Preis zu erkaufen und um keinen Preis des Himmels und der Erde feil zu geben bereit ist. Und wenn nun erst eine solche Minorität für ihre Sache große Opfer, langjährige Opfer gebracht, wenn sie als Märtyrertum vom Vater zum Enkel sich vererbt, wenn der Sohn seines Vaters, wenn der Enkel seines Ahns nicht zu gedenken vermag, ohne zugleich jener Sache in ihrem ganzen Glanze, in ihrem ein ganzes Mannesleben ausfüllenden Werte zu gedenken, wenn diese Sache sich erst bereits auch in Wahrheit in ihrer göttlichen, obsiegenden und alles andere mit seligstem Bewußtsein ersetzenden Kraft bewährt hat, wenn sie triumphierend ihre kleine Schar zum Kampf und zum Siege durch Jahrhunderte geführt, dann — ja dann wird sie also in Fleisch und Blut, in Geist und Seele ihrer kleinen Phalanx hineingelebt sein, daß sich diese von ihr wie auf geistigen Adlersflügeln fortgetragen fühlt und — die materiellen Halte und Hebel einer größeren Majoritätszahl gar nicht mehr vermißt.

Diese Folgerungen ergeben sich so natürlich aus der eigentümlichen Natur einer jeden Minoritätsstellung, daß wir uns wahrlich nicht zu wundern brauchen, sie in der ganzen historischen Erscheinung der ältesten und »hartnäckigsten« Minorität, wir meinen in der ganzen historischen Erscheinung der Israelitenheit bis auf die allerneueste Zeit herab verwirklicht zu sehen. Wir sagen mit Bedacht, bis auf die allerneueste Zeit. Denn wenn unsere Vergangenheit die glänzendsten Belege von der erhaltenden Kraft des Geistes bietet, den eine Minorität durch Forschung und Erkenntnis in allen ihren Gliedern wach zu halten weiß, so bestätigt die Erschlaffung der Gegenwart dasselbe durch den Gegensatz, indem sie zeigt, wie verloren die Minorität ist die, der Majorität nachahmend, noch den Namen ihrer Sache auf ihre Parteifahne schreibt, aber ihre Erkenntnis und ihren Geist einem Stande überantwortet und ihrer Gesamtheit entzieht. Indem Gott zu Jsrael: ‏,אתם המעט‎ ihr seid eine Minorität sprach, sprach er zugleich: '‏,לא ימוש ספר התורה הזה מפיך וגו es weiche das Buch dieser Lehre nicht von deinem Munde, forsche darin Tag und Nacht, schärfe sie deinen Kindern ein und sprich davon, wenn du zu Hause sitzest und wenn du des Weges gehest, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst. Wohl hatte Gott auch in Israel, in dieser Minorität, noch eine engere Minorität, einen Stamm, zur noch spezielleren Pflege seiner heiligen Sache im Kreise seiner Minorität erwählt, und entzog derselben noch den letzten übrigen materiellen Boden, auf daß er von ihr sagen konnte: ‏,ד’ הוא נחלתו‎ »Gott ist ihr Erbteil«. Allein nicht zum Standeseigentum machte er diesem Stamm seine heilige Sache, zu Herolden, Lehrern, Predigern seines Wortes an sein Volk rüstete er sie aus, ließ Jsraels Geistliche und Priester die Verbreitung der »Theologie«, der theologischen Erkenntnis und Wissenschaft bis in die niedrigsten Volkesschichten als ihre höchste Ausgabe erkennen, ließ sie dahin kommen, daß Jsraels Geistliche als ihren höchsten Triumph den erstrebten — durch allverbreitete Lehrerkenntnis — sich überflüssig zu machen, und gewiß hätte man keiner Majorität also wie der winzigen israelitischen Minorität vertrauen können, daß in ihr »das Studium ihrer Sache«, ‏,חלמוד תורה‎ das Lernen, noch mehr das Lehren der Thora, als das höchste, glänzendste, alles überragende Verdienst für alle dastehen würde, ‏.תלמוד תורה כנגד כולם‎

3.

Ist Geist und Gemüt ihrer Bekenner in der Tat der einzige, wirkliche und wahrhaftige Lebensboden einer zum Siege zu tragenden Wahrheit, ist das immer neue und frische Durchforschen und Durchdenken derselben die einzige, wirkliche und wahrhaftige Pflege, deren sie bedarf und deren sie fähig ist, so haben wir nach allem Obigen wohl nicht zu viel gesagt, indem wir meinten, in dem Schoße einer Minorität fände die Wahrheit immer eine treuere Pflege.

Allein siegende Erkenntnis einer Wahrheit ist nicht nur durch die geistige Hingebung ihrer Bekenner bedingt, die sittliche Reinheit ihrer Träger, insbesondere die Reinheit der Gesinnung, die zu ihrem Bekenntnis leitet und die ihre Forschung begleitet, ist ein zweites nicht minder wesentliches Moment, und auch in Betreff dieses Momentes erblicken wir die Sache der Wahrheit im Schoße einer Minorität in entschiedenem Vorteil Sie kann im Schoße einer Minorität immer auf reinere Träger rechnen.

Freilich befinden wir uns mit der ganzen Hervorhebung dieses Moments in entschiedenem Gegensatz zu den genialen stimmführenden Leitern unserer Zeit. Freilich ist ihnen der kritische Lehrstuhl der Gelehrsamkeit so sehr etwas vom praktischen Leben abseit liegendes, daß ihnen Charakter und Wissenschaft, Bekenntnis und Erkenntnis, praktischer Lebensgrundsatz und theoretisches Axiom, mit einem Worte Sittlichkeit und Wahrheit so sehr geschiedene Gebiete sind, daß sie wissenschaftliche Wahrheit von dem praktischen Verleugner derselben erwarten, daß sie das schmutzigste Gefäß für tauglich erachten, das reine Wasser der lebendigen Wahrheit zu wahren, und ihnen der nicht auf der Höhe der Zeit zu stehen scheint, dem die Rechtschaffenheit des Forschers nicht gleichgiltig ist für die zu erwartende Richtigkeit des Ergebnisses der Forschung.
Trägt uns nicht alles, so sind sie selbst für rein theoretische Erkenntnis solcher Wahrheiten, deren Gegenstand vom praktischen, sittlichen Leben durchaus fern liegt, völlig im Irrtum. Wer kann sagen, daß er Wahrheit, absolute Wahrheit gefunden! Aber Wahrheit suchen, Wahrheit wollen, Wahrheit um ihrer selbst willen wollen, um keines Vorteils willen, um keiner Ehre willen, sich dem Ergebnis der Wahrheit von vornherein gefangen geben, mag dies Ergebnis zum Vorteil oder Nachteil, zum Ruhmeskranz oder zur Beschämung des Forschers ausfallen, mögen Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten, Süßigkeit oder Bitterkeiten des Lebens sich an die Ferse des Ergebnisses knüpfen, das sind die Bedingungen, von welchen in hohem Grade die Ergebnisse einer jeden Forschung bedingt sind, und das sind Bedingungen, die zu allererst in dem sittlichen Charakter des Forschers wurzeln.

Und nun Wahrheiten, die so wenig von dem praktischen Leben getrennt sind, daß vielmehr dieses praktische Leben selbst ihr vornehmliches Objekt ist, daß in ihrem Gebiete kaum ein Ergebnis der Forschung sich herausstellen kann, das nicht mit der Erkenntnis sofort auch das praktische Bekenntnis, und meist durch opferfreudige Tat im Leben gebieterisch fordert — Wahrheiten, die eben durch das praktische Leben ihrer Bekenner zur Veranschaulichung und eben nur dadurch zur endlichen siegreichen Verbreitung gebracht werden wollen — die Erkenntnis und der Sieg solcher Wahrheiten ist vor allem nicht sowohl von der Zahl ihrer Träger, als von der Reinheit derselben bedingt, und auch für diese Bedingung ist der Schoß einer Minorität der entschieden günstigere.

Gebt einer Wahrheit eine siegreiche Majorität zur Seite, in 99 von hundert Fällen wird der Einfluß dieser Majorität ein nicht zu verfschmähendes Gewicht in die Wagschale aller materiellen und mit den materiellen sich kordial verbindenden Bestrebungen werfen; Glück und Fortkommen, Ehre und Ansehen, selbst literarischer Ruhm und Beifall wird meistens leichter im Gefolge der Majorität zu finden sein; die Wege des Lebens und das Urteil der Menge vermögen sichs dem Einflusse einer Majorität nicht zu entziehen — sofort ist die von einer Majorität getragene Wahrheit eine reiche Braut, die ihren Freiern nicht zu verachtende Angebinde zur Mitgift beut — wer will fortan die Huldigungen prüfen, die die unter ihre Fahne sich drängenden Massen ihr zujubeln, wieviel davon ihr, wieviel den Aussichten gelten, die ihr Dienst eröffnet? Es gehört eben nicht viel Märtyrertum dazu, sich zu der Ansicht einer Majorität zu bekennen.

Stellt aber die Wahrheit arm und einsam auf rauhen, unwirtsamen Fels, von dem nicht eben viele Wege zu den Gütern der Erde und zu den Ehren der Menschen gebahnt sind, — machet sie nur von wenigen gekannt, von noch wenigern bekannt, von einer geringen, einflußarmen Minderzahl vertreten, deren Anerkennung und Beifall nicht eben schwer wiegt auf der Schale der öffentlichen Meinung, — machet sie zum Stich- und Witzblatt und ihre Bekenner zum Gelächter der triumphierenden gedankenloser Masse, zum mitleidigen Achselzucken der tonangebenden Führer des Trosses — machet Entbehrung und Opfer, Vereinsamung und Selbstverleugnung zu ihrem Angebinde — so werden nur wenige sich zu ihr gesellen, noch weniger bei ihr ausharren, aber diese wenigen wird sie in Wahrheit die Ihrigen nennen können. Denn was hätten sie sonst bei ihr zu suchen?

Wer sind die Priester, die Gott an seinem Altare erwartet? Nicht die Leviten, ‏,אשר רחקו מעלי בתעות ישראל‎ die sich vom Volke ins Schlepptau nehmen und in die allgemeine Verirrung mit hineinreißen ließen; sondern ‏והכהנים הלוים בני צדוק אשר שמרו את משמרת‎ ‏,מקדשי בתעות בני ישראל מעלי‎ die mit echtem Levitengeist bei Gott ausharrten, wenn auch das Volk das goldene Kalb umtanzte, und als Zadoqssöhne ihre Treue nicht dahin wandten, wohin das Glück und die Volksgunst sich neigten, die Wache hielten bei meinem Heiligtume als Jsraels Söhne von mir sich verirrten, ‏המה יקרבו אלי לשרחני ועמדו‎ ‏להקריב לי הלב ודם נאם ד’ אלדי‎ ‏לפני!

Die erwartet Gott bei seinem Altare.

Es gibt keine größere Prüfung und Läuterung, als mit seinen Überzeugungen einsam und allein zu bleiben, und es gibt für die Sache der Wahrheit kein größeres Glück, als von Zeit zu Zeit ihre Bekenner dieser Minoritätserwähnung auszusetzen. Solche Zeiten sind freudelos, ernst und — reinigend wie der Sturm. Entastet und vereinsamt steht die Eiche da. Kinder weinen über die Verödung. Männer wissen, was den Sturm nicht aushält, was im Sturme abfällt, ist schon ohnehin dem Stamme entfremdet, ist schon ohnehin in seinem Mark nicht mehr mit dem Mark des Stammes verwachsen, ist welk und dürr. Es fällt? Es muß ja fallen, was soll dem Stamm das dürre Reisig! Was im Sturme bleibt, ist frisch und markig, rettet die Zukunft herrlicher als je, ‏!כאלה וכאלון אשר בשלכת מצבת בם זרע קדש מצבתה‎! — — —

4.

Wir haben einige Lichtseiten an der Minoritätsstellung betrachtet, wollen wir uns nicht auch nach den Schattenseiten umsehen, nicht auch die Gefahren uns vergegenwärtigen, die vielleicht der Sache der Wahrheit erwachsen könnten, wenn sie sich eine Zeit lang von einer Minorität getragen und vertreten sehen würde? Irren wir nicht, so sind auch diese Gefahren ernst genug, als daß eine Minorität, die es ernst mit ihrer Sache meint, vor ihnen ihre Augen schließen und sich sorgloser Ruhe überlassen dürfte.

Heben wir nur die eine oder die andere hervor, wie sie sich uns aus der Natur der Sache von selbst ergeben und von der Erfahrung der Zeiten bestätigt erscheinen.

Jede Minoritätsstellung ist eine Prüfung, und in jeder Prüfung liegt Gefahr, wenn auch nicht unmittelbar für die Sache, so doch Gefahr für ihre Träger, die aber doch wieder indirekt ihre Sache gefährdet. Einer Wahrheit, deren Bestimmung die allgemeinste Verbreitung und Anerkennung ist, kann es doch nicht ganz gleich gelten, wie viel sie Anhänger und Bekenner zählt, und noch weniger ihr gleichgiltig sein, welche Begriffe und Vorstellungen sich von ihr die Kreise ihrer Nichtbekenner bilden. Sie ist doch hinsichtlich ihres äußeren Bereichs noch umso ferner vom Ziel, je beschränkter annoch der Kreis ihrer Anhänger ist, und je entstellter und getrübter die Vorstellungen, sind, die ihre Nichtbekenner von ihr hegen, umso geringer und ferner ist noch ihre Hoffnung, sie dereinst alle durch die ihr innewohnende Macht zu gewinnen.

Es ist nun zuerst das freilich natürliche, aber doch eigentümliche Geschick einer jeden Minorität, daß mehr als irgendwo sonst in ihr von ihren Gegnern die Sache mit den Personen durchaus verselbert wird. Natürlich! Die Majorität, die, wie wir bemerkt, sich sehr bald kaum noch mit dem geistigen Inhalt ihrer eigenen Sache durchdringt, gibt sich noch viel weniger Mühe, die Sache ihrer Gegner in Wahrheit und Wirklichkeit kennen zu lernen. Sie beurteilt die Sache der Minorität nur nach der Erscheinung, in welcher sie durch deren Träger zur Anschauung gebracht wird, und ist dann in der Regel so gedankenlos ungerecht, noch dazu ein jedes einzelne, beliebige, ihr zufällig zu Gesicht kommende Glied der Minorität als Repräsentant der kleinen Gesamtheit zu betrachten. Das ist das Geschick einer jeden Minorität. Das war z. B. das Geschick der israelitischen Minorität inmitten der großen Völkermajorität seit Jahrtausenden. Man beurteilte das Israelitentum nach den Kindern Israel's und die Kinder Israel's nach dem ersten besten Israeliten, der in den Wurf kam. Und obgleich wir so viel unter dieser vorurteilsvollen Gedankenlosigkeit gelitten, wiederholt sie sichs doch heutzutage unter uns selber in den Parteiungen, in welche die Kinder Israel's selber im Innern auseinander getreten.

Wir hätten dieses eigentümliche Geschick der Minorität eigentlich zu ihren Lichtseiten zählen dürfen. Es ist ein Glück, ein nicht zu berechnendes Glück für die Sache der Wahrheit, wenn nicht nur die Gesamtheit ihrer Träger, wenn jeder einzelne derselben der schärfsten Kritik der Gegner ausgesetzt ist, wenn jeder es fühlt, wenn es jedem zum Bewußtsein gebracht wird, daß die Ehre der Gesamtheit, ja daß die Ehre der Gesamtheitssache von der Gediegenheit und Tadellosigkeit jedes einzelnen bedingt ist. Es ist das ein unendlicher Sporn für jeden einzelnen, sich nicht gedankenlos gehen zu lassen, sich vor jeder Geistes- und Charakterverirrung zu hüten, um nicht durch seinen Einzelfehl seine Gesamtheit und ihre Sache zu gefährden. Es ist das eben die Eigentümlichkeit, die der israelitischen Minorität jene hohen Begriffe vom ‏קידוש השם‎ und ‏חילול השם‎ gebracht hat, die sich an das Geistes- und Tatenleben jedes einzelnen knüpfen, die es jedem Israeliten tief in die Seele geschrieben hat, daß auch nach außen ‏,כל ישראל עדבים זה לזה‎ jeder Israelite Bürge für den andern sei und jeder Israelite nicht nur für sich, sondern um seiner Gesamtheit und ihrer Sache, um der Israelitenheit und des Israelitentums willen untadelhaft und rein dazustehen habe.

Diese Höherschätzung eines jeden einzelnen und infolge davon eine schärfere Kritik seiner Denk- und Handlungsweise ist ein ganz natürliches Zubehör zur Minoritätsstellung. Gehöre der Majorität an und kein Mensch wird sich um dich kümmern, du müßtest denn ganz besonders im Guten oder Schlechten hervorragen, sonst fragt dich kein Mensch deinen Katechismus ab, du bedarfst keiner Rechtfertigung für deine Denk- und Lebensweise, es versteht sich ja von selbst, daß man der Mehrzahl folge, auf der breitgetretenen Heerstraße der Menge wirst du nach keinem Pass gefragt. Aber wage es einmal, wenn auch noch so still bescheiden, einen Seitenweg für dich zu wandeln, gleich hast du die Augen aller von der Heerstraße auf dich gerichtet, dein Sonderwandel erscheint einem jeden als Anmaßung, als Protest und Vorwurf gegen ihn und seine Masse, der jüngste Majoritätengassenbube fühlt sich berechtigt, dich nach deinem Paß, nach deiner Berechtigung des Alleinwandelns zu fragen. »Wenn du nicht besser bist, als einer von uns, wenn du deine Schwächen »und Gebrechen hast, so gut wie unser einer, warum denn so stolz dich »absondern?« Diese Frage liesest du in aller Blicken. Und was das Schlimmste ist, Dinge, die nicht im Entferntesten mit dem Prinzipe, mit der Sache in Verbindung stehen, die dich von der Heerstraße der Menge trennt, Eigentümlichkeiten, Zufälligkeiten, die dir wie jedem ankleben, die dir eben so eigen wären, wenn du auch mit der Menge wandelst, die aber dann unbemerkt und ungerügt als menschliche Muttermäler dir verziehen werden würden, kurz der ganze Habitus deines Denkens und Lebens, auch wie du dich »räusperst und wie du spucks«, setzt man auf Kosten deines Sonderprinzips, in allem und mit allem sieht man bei der Minorität ihre Sache repräsentiert und daher kommt es wohl, daß so selten die Majorität eine gerechte Anschauung von dem Prinzipe und der Sache der Minorität sich bildet, daß ihr diese Anschauung sie vielmehr größtenteils zur Karrikatur gestaltet. Sollen wir wieder auf das Geschick des Israelitentums im Kreise der nichtisraelitischen Massen seit Jahrhunderten hinweisen? Dieselbe wiederholt sichs aber heutzutage unter uns, wo wir zufällig die gesetzestreuen Israeliten als Minderzahl einer modernen Majorität gegenüber sehen. Und das ist ein Malheur. Eine Minorität darf keinen Plebs und keinen Ausschuß, ja sie darf keine Schwächen und Gebrechen haben, es soll die Reinheit und Wahrheit ihrer Sache in dem Geistes- und Tatenleben eines jeden einzelnen ihrer Glieder zur Erscheinung kommen, und man vergißt, daß jedes Prinzip, jede Lehre, jedes Gesetz ein Ideal ist, dessen Verwirklichung dem Ernstesten und Besten unablässig als ein zu erstrebendes, wohl aber nimmer in seiner Vollkommenheit zu erreichendes Ziel vorzuschweben habe und zu dessen Reinheit und Vollkommenheit sich das wirkliche Lebensbild auch des Besten wohl stets nur wie der gebrochene, farbige Lichtstrahl zu dem blendenden, reinen Glanze des Sonnenlichts verhalten werde.

5.

Allein eine Minoritätsstellung hat nicht nur Gefahren für die Vertretung ihrer Sache nach außen, sie hat auch ernste Gefahren für die Pflege derselben im eigenen inneren Kreise.

Sollen wir denn nicht des Kleinmuts gedenken, der dennoch nicht selten und gerade nicht immer die schlechtesten Glieder einer Minorität beschleicht, wenn ihre Begeisterung ihnen zeigt, zu welcher weitreichenden Herrschaft über die Gemüter die Wahrheit, der sie anhängen, gelangen müßte,und sie sich auf immer kleinere und kleinste Kreise beschränkt sehen, immer weniger die Wahrheit erkannt, immer mehr die Wahrheit verleugnet, und immer größer die Majorität der Abgefallenen? Werden sie sich immer des Kleinmuts erwehren, der, wenn er auch nicht an dem endlichen Siege seiner Sache verzweifelt, doch zuletzt Mißtrauen in die eigene Kraft, in die eigene Fähigkeit und Würdigkeit sie zu vertreten erhält, jenes Mißtrauen in sich selber, das unsere Weisen uns schon in dem Gemüte der Würdigsten und Besten der vereinsamten Vertreter einer Minoritätssache mit dem Zweifel enthüllten: ‏שמא יגרום החטא‎ jenes Mißtrauen, das aber mit dem Vertrauen zu uns selbst uns zugleich der freudigen Kraft rüstiger Tätigkeit für die Sache beraubt?

Und nun jener Kleinmut, der sich so leicht der ebenso treuen aber geistig minder begabten Genossen bemeistert, denen denn doch zuletzt die Majorität mit ihrer Masse und ihrem kecken, wegwerfenden Urteil imponiert, die die Fähigkeit und Tüchtigkeit nach dem Erfolg, und den Erfolg nicht nach eigener Einsicht, sondern nach dem Beifall der Menge und der eigenen ruhmredigen Verkündung der Meister beurteilen, die mit unendlichem Respekt zur Majorität und ihren Meistern und Leitern aufblicken und so leicht, wenngleich nicht die Treue, doch den Mut und die Zuversicht in die eigene Sache verlieren.

Jener Kleinmut endlich, hinter den sich so gerne die Schwäche, die Trägheit und die Kargheit verkriecht und die sträflichste Untätigkeit mit den frommen, gottverleugnenden Seufzern beschönigt: es nützt ja leider doch nichts, die Zeit ist nicht zu ändern und mit der Majorität nicht zu streiten. — —

O, es hat die Minorität keinen größeren Feind, als diesen Kleinmut und es gehört wahrlich nicht wenig dazu, in einer kleinen Schar, den immer frischen Mut und die Zuversicht der Begeisterung und jenes unzerstörbare, heitere Pflichtgefühl wach zu halten, dem eben in dem Kampfe und in Schwierigkeiten die Kraft, und da, wo andere verzweifeln, die Hoffnung und die Zuversicht wächst, das sich immer vergegenwärtigt: gerade das Schwerste hat zu geschehen, für das Schwierigste ist die Tatkraft zu üben; das Leichte, das auf der Hand liegende macht sich von selbst, — das überhaupt an den Erfolg nicht denkt, den Erfolg in Gottes Hand stellt, das selbst im Angesicht völliger Erfolglosigkeit ungeschwächt und voll seine Pflichten erfüllen würde und mit seinem ältesten Meister spräche: ‏הנסתרות לד' אלדינו, והנגלוח לנו ולבנינו עד עולם לעשות את כל‎ ‏!דברי התורה הזאת‎

Geht aber durch Kleinmut der Minorität die Tatkraft verloren, so büßt sie, wenn auch nicht die Kraft zur Tat, so doch den Willen und den Trieb zur Tat nicht selten auch durch die entgegengesetzte Richtung ein. Wir meinen jene ungerechtfertigte Sorglosigkeit, die aus zu großem Vertrauen in ihre Sache entspringt. Je tiefer eine Minorität von der Wahrheit und Heiligkeit ihrer Sache durchdrungen ist, je ernster sie von dem endlichen Siege derselben überzeugt ist, je mehr sie sich berechtigt glaubt, ihre Sache für Gottes Sache zu halten, je schlagender ihr auch die Erfahrung vieler Jahrhunderte zur Seite steht, wie aus den schwierigsten Lagen, über die drohendsten Gefahren und fast ohne menschliches Zutun eine gütige Allmacht ihre Sache siegreich emporgetragen, umso leichter kommt eine solche Minorität zu der sträflichen Verirrung, die Hände in den Schoß zu legen, weder mit Wort noch Tat die Sache zu verfechten, Gott, dem sie doch ohnehin das Meiste überlassen muß, nun auch alles anheim zu geben und im gläubigsten Vertrauen — ihre heiligsten Pflichten zu verabsäumen. Freilich, ist ihre Sache Gottes Sache, wird auch Gott seine Sache so wie trotz des Abfalls der Menge, so auch trotz der untätigen Schlaffheit der treuen Minderzahl retten. Aber diese schlaffe Untätigkeit bleibt darum doch nicht minder verwerflich, ist darum doch nicht minder pflichtvergessene Versündigung gegen Den, der seine Wahrheit durch Menschen gelehrt und vertreten wissen will, der nicht nur zur Vergangenheit, der zu jeder Gegenwart spricht: ‏,עשו משמרת למשמרתי ,ושמרתם את משמרתי‎ »Bewachet, schützet, rettet mein euch anvertrautes Gut!« und meins — ‏ממקדשי תחלו‎ — der mit seinen Treuesten zuerst ins Gericht geht, wenn sie nur der eigenen Lebensreinheit gelebt und nicht bis zum letzten Ausmaß ihrer Kraft das Ihrige getan, auch die Lebensreinheit der Gesamtheit zu retten. —

6.

Untätigkeit hat eine Minorität zu fürchten, aber in noch höherem Grade eine aus bester Absicht mißleitete Tätigkeit. Eine Minorität ist schwach und gar leicht meint der Schwache, er müsse durch Klugheit, Gewandtheit, Diplomatie, List ersetzen, was ihm an materieller Kraft des Masseneinflusses abgeht. Eine schwache Minorität kommt leicht in die Versuchung, krumme Wege zum vermeintlichen Besten ihrer Sache zu versuchen, und vergißt, daß sie mit jedem krummen Wege selbst die Reinheit und Göttlichkeit ihrer Sache verleugnet. Ist ihre Sache rein, ist ihre Sache wahr, ist ihre Sache Gottes Sache, so bedarf sie der Krümme nicht, so verabscheut sie jede Ungeradheit, so sieht sie sich entweihet durch jede Abweichung vom Geraden und Wahren; denn sie ist die Tochter Des, der gesprochen: ‏!כי תועבת ד’ כל עושה אלה כל עושה עול‎ Aus diplomatischer Verschlagenheit und listiger Gewandtheit blühet nirgends Heil, der Sache des Reinen und Guten am allerwenigsten Gemeines und Schlechtes lasset klug sein, lasset schlau seine wahren Absichten verbergen und gewandt auf Umwegen eine Lücke erschleichen, in welche es das Ei seiner Zukunft niste. Göttliches und Wahres hat das Licht nicht zu scheuen, darf das Licht nicht scheuen, braucht und darf sich nimmer verleugnen, braucht und darf für seine Zukunft nur das Gerade und offen Darliegende erstreben und benützen; denn wofür wäre es sonst göttlich und wahr? Wir haben oben jene Sorglosigkeit getadelt, die, im Vertrauen auf die Göttlichkeit ihrer Sache, Gott deren Zukunft ganz überläßt und untätig die Hände in den Schoß legt. Hier ist dieses sorglose Vertrauen, hier diese vertrauensvolle Ruhe an ihrer Stelle, hier Untätigkeit Tugend und Ruhe Verdienst, ‏!והיתה מנוחתו כבוד‎ An der Grenze des Redlichen und Geraden angelangt, legen wir ruhig unsere Zukunft Gott in Händen, der seine Sache nicht mit unreinen Händen gehandhabt, nicht mit unreinen Waffen vertreten wissen will. »Nur durch Pflichttreue sollst du dich begründen! Halte dich fern von Unrecht, denn du hast nichts zu fürchten, und von Bestürzung, denn die soll dir nicht nahen. Siehe, nichts weilt auch nur im flüchtigsten Dasein ohne Mich, wer neben dir weilt, fällt einst dir zu«! Siehe, ich habe den Meister geschaffen, der das Kohlenfeuer anbläst und der Gerät für sein Wirken herschafft und ich habe auch den Verderber geschaffen, Kreißen zu fördern. Jedes Gerät, das gegen dich geschmiedet wird, wird nicht gelingen, und jede Zunge, die mit dir zu Gericht aufsteht, wirst du des Unrechts zeihen. Das ist das Los der Diener Gottes und deren Pflichttreue von mir stammt, spricht Gott!« (Jesaias K. 54 V. 14—17.)

7.

Eine eigentümliche Gefahr hat eine Minorität zu fürchten, die wir theoretische und praktische Einseitigkeit nennen möchten, eine Gefahr, die gerade umsomehr nahe liegt, je inniger eine Minderzahl ihrer Sache anhängt und je ängstlicher sie um die Erhaltung derselben besorgt ist. Wir haben uns schon gesagt, wie eine Minderzahl schon durch ihre Minoritätsstellung darauf hingewiesen ist, in allen ihren Gliedern fort und fort den Geist der von ihr vertretenen Sache wach zu halten, sich ganz in die geistige Erfassung ihrer Wahrheit zu versenken und sie zu immer vollkommenerer und verbreiteterer Erkenntnis in ihrem Kreise zu bringen. Wir haben in dieser regen, geistigen Beschäftigung mit ihrer Sache die erste Bedingung ihrer Existenz erkannt und haben dieselbe als den bedeutendsten Vorteil begrüßt, den eine Wahrheit aus der Pflege einer Minorität zu erhoffen hat. Allein eben diese geistige gänzliche Hingebung an ihre Sache führt die Minorität leicht zu einer geistigen Einseitigkeit, die sich leicht in verkümmerter Entfaltung ihres eigentümlichen Geisteslebens in eignem Kreise, mehr aber noch in untüchtigerer, erfolgloserer Vertretung ihrer Sache nach außen rächt, und somit jedenfalls der eigenen Sache selbst zu bedeutendem Nachteil gereicht. Je reicher an Licht und Wahrheit die Sache ist, die eine Minorität vertritt, je unerschöpflicher der Born ist, der sich ihr dort für ihre geistige Tätigkeit eröffnet, und je beglückender, Geist erleuchtend, Herz erwärmend, Leben gestaltend die Erkenntnis ist, die ihr dort blüht, umso höher wird sie diese Erkenntnis schätzen — umso leichter aber auch dazu kommen, jede andere Kenntnis als entbehrlich, als völlig wertlos zu achten, ja, jede auf eine andere Erkenntnis gerichtete geistige Tätigkeit schon als eine Versündigung an ihrer Sache, als eine Schmälerung der ihr gebührenden Hingebung, als eine Beeinträchtigung ihrer Gerechtsame eifersüchtig zurückzuweisen.

Sie bleibt aber bei dieser bloßen Geringschätzung anderer geistiger Bestrebungen nicht stehen. Natürlich entgeht ihr die richtige Beurteilung und wahrheitsgetreue Würdigung aller jener geistigen Gebiete, die sie nicht anbaut, deren Pflege sie aber im Kreise der ihr gegenüberstehenden Majorität mit eifriger Hingebung betrieben sieht, und kommt bald dazu das — aus Unkenntnis — zu fürchten, was sie zuerst aus bloßer Geringschätzung vernachlässigt. Weil sie diese geistigen Gebiete nicht kennt, weil sie ihrer Pflege vorzugsweise im Kreise ihrer Gegner begegnet, und weil sich ihre Gegner derselben im Kampfe gegen sie zu wohlfeilem, leichtem Siege bedienen, da es so leicht ist, sich einem Gegner in einem Gebiete überlegen zu zeigen, auf welchem dieser fremd ist, und aus Grundsatz fremd bleiben will, so ist nichts natürlicher, als daß die Minorität eine innere, enge Verwandtschaft dieser geistigen Erkenntnisse mit dem oppositionellen Gegensatz der Majorität vermutet, ja in ihnen die Wurzel der von ihr beklagten Verirrung der Mehrzahl erkennen zu müssen glaubt und dahin kommt, eine jede andere geistige Bestrebung als einen Feind ihrer eigenen Sache und als eine Gefahr für die Reinheit und Treue ihrer Anhänger mit sorgenvoller Angst zu fürchten. Sie bedenkt nicht, daß, wenn sie im Besitze der Wahrheit ist, sie das Wahre in allen anderen geistigen Bestrebungen nicht zu fürchten, vielmehr in aller Wahrheit, wo immer sie gefunden werde, den entschiedensten Freund zu erwarten habe. Denn alle Wahrheit ist eins. Sie sieht nicht, daß es auch nicht das Wahre, daß es eben nur das in sich Unwahre, Fälsche, von dem Aberwitz der Oberflächlichkeit ausstaffirte Hohle ist, das man ihr aus andern Gebieten zum schreckenden Popanz entgegen hält, dem sie nur darum die triumphierende Larve abzureißen nicht imstande ist, weil sie sich aus Unkenntnis, aus unbegründeter Scheu, ängstlich in der Ferne hält. Sie sieht endlich nicht, daß selbst die, ihrer inneren Wahrheit halber, ihr befreundetsten Disziplinen ein ihr so feindliches Antlitz gewonnen haben und gewinnen mußten, weil sie deren Anbau nur mit von ihren Parteiansichten geblendetem Auge betrieben, und dessen Ernte nur im Interesse ihrer Parteibestrebungen ausgebeutet.

Indem sie sich aber geistig isoliert, büßt sie alle jene Vorteile ein, die ihrer eigenen geistigen Entwickelung befruchtend zugute kommen würden und verkürzt selber die Anerkennung ihrer eigenen Sache, die, wie jede Wahrheit, nicht durch ängstliche Scheu, sondern durch überwältigende Meisterschaft zum Siege gebracht werden kann.

Noch trübere Folgen trägt die Gefahr in ihrem Schoße, die wir die praktische Einseitigkeit genannt. Sie kann, gottlob, bei jeder Minorität nur vereinzelt vorkommen, indem sie, in größerer Ausdehnung sofort die ganze sittliche Existenz der Minorität aufheben würde, die wir aber gleichwohl, eben ihrer Verderblichkeit halber, mit Wenigem anzudeuten uns nicht erübrigen können. Ist die Sache, welche eine Minorität vertritt, nicht rein theoretischer Natur, greift sie tief ins praktische Leben ein, fordert sie gebieterisch die Dahingabe des praktischen Lebens an die Verwirklichung ihres Prinzips, ja, gewinnt sie eben in Gestaltung und Beherrschung der verschiedensten Seiten des praktischen Lebens ihr wirkliches, wahrhaftiges Dasein, so muß in natürlicher Folge eine solche Minorität auf diese praktische Verwirklichung ihrer Grundsätze das bedeutendste Gewicht legen, ja, sie wird eben an dieser entsprechenden Lebensgestaltung die Ihrigen erkennen und erkennen müssen. Sie wird, wenn das Prinzip, das sie durchdringt, ein wahres ist, mit der ihr gegenüberstehenden Majorität in Verwirklichung alles Guten und Wahren, das sie beide gemeinschaftlich anerkennen, wetteifern; ja in ihren Triumphen auf dieser beiderseitig anerkannten Arena wird sie der Gegnerin bewundernde Huldigung auch des von dieser verleugneten Prinzipes abnötigen. Allein sie wird doch, eben weil die Majorität dieses Prinzip verleugnet, auf dessen Verwirklichung in ihrem Kreise mit doppeltem Nachdruck bestehen, ja dessen Verwirklichung entschieden in die Oeffentlichkeit tragen. Hier läuft sie nun Gefahr, allmählich Glieder in ihrem Kreis sich ansammeln zu sehen, die, die Reinheit ihrer Grundsätze mißkennend, die Verwirklichung dieser streitigen Grundsätze als ihre alleinige Aufgabe begreifen, verachten und eben nur das schätzen zu dürfen vermeinen, was nach außen als »Parteiabzeichen« erscheint und worin sich eben die Anhänger der Minorität als solche bekunden. Selbst wenn diese in praktischer Einseitigkeit Befangenen es aufrichtig meinen und nur aus Unwissenheit sündigen, sind sie ihr im höchsten Grade verderblich. Weist sie nicht entschieden die Gemeinschaft mit diesen Einseitigen von sich, so läuft sie die doppelte Gefahr, im eigenen Kreise das Bewußtsein von ihrer reinen, vollen Aufgabe allmählich getrübt zu sehen, nach außen aber allen möglichen Mißdeutungen und Verdächtigungen anheimzufallen.

Wir wollten nun noch die Gefahr der Zersplitterung einerseits und des Juste-Milieu-Wahns andererseits betrachten, wollten noch eine und die andere Klippe beleuchten, die eine Minorität zu fürchten, Berge, die sie zu ersteigen, Schwierigkeiten, die sie zu überwinden, Prüfungen, die sie zu bestehen hat; allein das nahende Makkabäerfest mahnt mit seiner heiteren, immer steigenden Lichtfeier, diesen ernsten Gedanken nicht allzusehr sich hinzugeben. Es tritt in unsern Kreis, und wie ernst und gefahrdrohend auch die Zeiten für unsere »Minorität« sich gestalten, wie drohend die Klippen, wie ernst die Prüfungen, steil die Berge scheinen und wie sehr auch, was nur immer durch Zahl- und Machtübergewicht imponiert, auf die andere Seite tritt und seinen Einfluß in die entgegengesetzte Schale wirft — ‏,,,לא בחיל ולא בכח כי אם ברוחי״‎ »Nicht durch Massen, nicht durch Gewalt, sondern durch meinen Geist!« rief Gott einst den Führern der winzigsten Minorität zu, mit welcher er den Wiederaufbau seines in Schutt liegenden Heiligtums beginnen ließ, — ‏,לא בחיל ולא בכח כי אם ברוחי‎ das wiederholt uns das Prophetenwort zur Würdigung der Bedeutung unseres Makkabäerfestes, dieses Siegesfestes eines Minoritätenhäufleins über eine auf Bildung, Macht, Einfluß und Anhang trotzende Majorität, — ‏לא בחיל ולא בכח כי אם ברוחי‎ ruft ‏ד' צבאו’‎ auch dem Häuflein seiner heutigen Treuen zu, — und wenn sie im Geiste dieses Rufes leben, im Geiste dieses Rufes sterben, was sind da die Klippen, die sie zu fürchten, die Berge, die sie zu ersteigen hätten! Vor diesem Geiste werden Klippen und Berge zur Ebene! ‏למישור‎ — ‏!מי אתה הר הגדול‎ Und gelingt es ihnen, auch nur einen, einen Stein wiederum neu zu legen; auch Serubabel hatte nur einen, den ersten, den Hauptgrundstein zu legen, ‏;והוציא את האבן הראשה‎ aber diesem einen, ersten, in solchem Geist gelegten Steine ward die Fülle der heilesspendenden Gnade verheißen, ‏תשואוח חן חן לה‎ —

!תשואות חן חן לה


Kislew - 1. die Regenbitte Scha-alah 2. Chanukha (Band 1)

  1. Scha-alah. Mit dem 13. Kislew beginnt die Regenbitte im Gebete, so lautet die Notiz in deinem Kalender, „wer diese Bitte vergisst, hat noch einmal zu beten.“ Einen Augenblick verweile bei dieser Notiz und beherzige, um dein und deiner Kinder Heil beherzige die Wahrheit, die sie dir bringt. Ist es nicht ein herzzerreißender Gedanke sagen zu können, dass die Erinnerung dieser Kalendernotiz heutzutage ein Stein der Prüfung, eine Probe der Wardeiung, ein Schibboleth ist, woran du dich erkennen kannst, ob du noch gesund, ob dein Inneres, dein heiliges göttliches Innere noch gesund, noch unangegriffen ist von dem Miasma des Wahnes, mit dem geschäftige Boten des Todes das Leben der Menschengemüter zu untergraben sich bemühen? Bittet Gott um Regen, das ist die Forderung dieser Notiz, bittet Gott um Regen zur Regenzeit, es ist Gott, der die Wohlgestalten; des Regens Richtung gibt er ihnen, selbst für einen einzelnen Mann, für ein einzelnes Kraut auf dem Felde! (Secharjah 1) Siehe! das ist der lebendige Glaube des Juden! Er ist nicht blind für die Fülle von Kräften und für die Macht der Gesetze, die sein Meister und der Meister der Natur in das Werk seiner Schöpfung gesenkt. Eine Welt von Tat gewordenen Gottesgedanken ist ihm das All, Mlacháh, Malach, Botschaft, Bote von Gott ist ihm jedes Wesen und jede Kraft, und jedes Gesetz, das Wesen und Kräfte beherrscht. Gottesauftrag vollstrecken sie alle mit allem, und da am meisten, wo der blind gewordene Menschenmaulwurf dumpf hinmurmelt: es ist Naturgesetz, das sie regelt. Dieses Naturgesetz selber ist die lebendigste Offenbarung Gottes, und dass es uns so ewig dünkt, das unzweideutigste Wunder seiner Allmacht. Nicht daher nur, wenn Gottes Geheiß das Weltmeer spaltet und dem Feuer die verzehrende Kraft bändigt, lobsingt der Jude seinem Gott; sondern auch wenn zum millionsten Male der Morgen leuchtet, und zum sechstehalbtausendsten Male der Frühling lächelt, betet der Jude seinen Gott an, der der Sonne ihre Bahn und dem Lichtstrahl sein Gesetz und den Jahreszeiten ihren Wechsel vorgezeichnet. Die Erdwelt aber, die Adamah, dieser Adamsboden, diese dem Menschen vermählte Erdnatur, die Erdballrinde mit der Dunsthülle, die sie mütterlich umgibt, und alles, was in diesem Lebensringe keimet und lebet, stehet nicht nur unter dem Gesetz der einmal vom Meister bei der Schöpfung hingestellten und durch seinen allmächtigen Willen fest gehaltenen Ordnung, dem Menschen ist sie angetraut, dem Menschen, dem der Schöpfer mit dem freien Kusse seiner Gnade einen Funken seines freien ewigen Wesens eingehaucht, und mit diesem Gotteshauche die Macht und die Bestimmung gegeben, sich mit freier ewiger Kraft über das zwingende Muss zu erheben, dem alle andere Wesen und Kräfte nach des Allmächtigen Willen sich beugen, diesem, mit freier Gotteskraft die Naturgesetze überragenden Menschen, ist sie angetraut, als Boden und Reich seines freien Schaffens und Wirkens, aber auch zugleich als Erziehungsstätte seiner Veredlung, Entwicklung und seiner Heranerziehung zu Gott und zu seiner eigenen göttlichen Hoheit und Größe. Hier wacht das besondere Auge Gottes und sein allmächtiger Wille hält hier nicht nur die von ihm geschaffene Ordnung der Natur, sondern lenkt und leitet, gibt und nimmt, richtet und regelt die Erzeugnisse und Gänge ihrer Kräfte nach dem jeweiligen Erziehungsbedürfnisse der Menschheit, der Völker, der Familien, der Menschen. Wehe dir, wenn die Theraphim, die redenden dichtenden Götzen dich mit ihrer Lehre des Awen, der schöpferlosen meisterlosen Kraft betört, wenn die Kossemim, die Deuter der Naturzeichen, nur Lüge erschaut, nur traumgeborenen Wahn verbreiten und „Nichtigkeit“ zum Troste bieten und sie darum ins „Pfadlose wie Schafe wandern und sich damit rechtfertigen, dass es doch keinen Hirten gebe!“ (Secharjah 10, 2.) Wehe dir, wenn das herrlichste Geschenk des Menschheitsgottes, der Stolz des Menschengeistes, die denkende Anschauung der Wunder der Natur, dir den Schöpfer, und Meister und Lenker dieser Wunder, dir den Glauben an deinen Gott geraubt, und dir nicht mehr mit innigem Gefühle die Bitte über die Lippe gehet, „und gib Tau und Regen zum Segen der Fläche der Adamserde.“ Heil dir, wenn, je reicher und tiefer du die Wunder der Natur erschaut, um so tiefer und inniger dich die Verehrung ihres Meisters erfüllt, je deutlicher dir die deiner Welt inne wohnenden Gedanken hervor getreten, um so näher du eben ihn, den großen einzigen Denker dieser Gedanken erkennst, je mehr dir jeder Regentropfen die Wunderweisheit und Wundermacht deines und seines Schöpfers verkündet, umso anbetender du dich zu ihm hinwendest und betest: „o, gib Tau und Regen zum Segen der Welt des Menschen.“ Weil du mit freudigem Herzen es weißt und bekennst, „dass Gott die Wolken bildet, und ihnen die Richtung des Regens gibt, selbst für einen einzelnen Menschen, für ein einzelnes Kraut auf dem Felde.“
  2. Chanuckah. Mit dem Abend des 25ten Kislew zündest du das Chanuckahlicht in deinem Hause an, und mit immer steigendem Lichtgruß tritt 8 Tage lang die Erinnerung einer alten Geschichte aus einer alten Zeit in deinen Kreis. Immer wieder die alte Geschichte? Sterben denn die jüdischen Toten nie? Vergehet denn die jüdische Vergangenheit nimmer? Nein, die jüdischen Toten sterben nicht. Wer für´s Judentum gestorben, noch mehr, wer für´s Judentum gelebt, der stirbt nimmer; ewig dankbar bewahrt sein Andenken das seinen vergangenen Edlen dankbarste Geschlecht. Und die Vergangenheit, die Geschichte, die jüdische Vergangenheit, die jüdische Geschichte, - ewig frisch und ewig neu, tritt sie in ihren großen Zügen an jedes jüngere Geschlecht heran mahnend, warnend, tröstend und erhebend. Und nun gar diese Geschichte! O, dass sie alt wäre, mit ihrem Trüben und ihrem Herrlichen nun nach 2000 Jahren alt, so alt, dass uns das Trübe unbegreiflich und das Herrliche alltäglich erschiene! Es hat sich aber Jeschua lieber Jason nennen lassen, wie sein jüngster Bruder – (Beide waren sie nacheinander Hohepriester!) – für den Namen Chonjah lieber wollte Menelaos genannt werden… Als nun Menelaos samt des Tobias Söhnen solcher Gewalt (im Streit mit dem Bruder ums Hohepriesteramt) weichen mussten, sind sie zum König Antiochus getreten und haben sich erboten, ihre jüdischen Gesetze und Gewohnheiten allzumal abzuwerfen, und sich nach des Königs und der Griechen Satzungen und Gebräuchen zu halten und baten deswegen um Erlaubnis in der Stadt Jerusalem ein griechisches Gymnasium aufzurichten. Und nachdem sie solches erlangt, haben sie sich Vorhäute gemacht, damit sie auch nackt den Griechen gleich und ähnlich schienen, und haben so alle Sitten ihrer Ahnen fahren lassen und sich fremder Völker Gewohnheiten beflissen…) Ist´s eine alte Geschichte? In jenen Tagen traten aus Israel gesetzeswidrige Männer hervor und redeten dem Volke zu und sprachen: Lasset uns gehen mit den Völkern um uns her einen Bund machen: denn seitdem wir uns von ihnen gesondert, haben uns viele Leiden getroffen. Diese Rede gefiel den Augen der Menge und einige aus dem Volke waren bereit und machten sich auf den Weg zu dem König. Der König gab ihnen die Erlaubnis die Sitten der Heiden einzuführen. Da erbauten sie in Jerusalem ein Gymnasium nach griechischer Weise, und machten sich Vorhäute, und standen ab von dem heiligen Bunde und verbanden sich mit den Völkern und gaben sich ganz preis, das Böse zu üben. Ist´s eine alte Geschichte? …stand Jason, Onias Bruder nach dem Hohenpriesteramt, und ging zum König und versprach ihm 360 Talente Silbers und aus anderen Einkünften noch achtzig Talente. Überdies aber verhieß er ihm noch 150 Talente, wenn es seiner Machtvollkommenheit eingeräumt werden sollte, ein Gymnasium und eine Anstalt für die gymnastischen Übungen zu errichten, und Einwohnern von Jerusalem das Bürgerrecht von Antiochia zu verleihen. Da der König solches bewilligt und Jason die Macht erhalten hatte, fing er sogleich an, seine Landsleute zur Annahme der hellenischen Sitten zu verleiten, entfernte die von den alten Königen den Juden gestatteten löblichen Sitten, abrogierte die gesetzentsprechenden Weisen und führte gesetzwidrige Bräuche ein. Ja, er wagte es gerade unter die Burg ein Haus gymnastischer Spiele hin zu bauen und die Besten der Jünglinge zu den dortigen Übungen anzuhalten. Durch die alles überschreitende Frevelhaftigkeit des gottlosen und keineswegs hohenpriesterlichen Jason ward aber der Sporn zum Hellenismus und der Zugang fremder Sitten so stark, dass selbst die Priester nicht mehr um die Dienste des Altars sich kümmerten, sondern den Tempel verachteten, Opfer vernachlässigten, und hinliefen, um sich an den unerlaubten Aufführungen in der Palästra nach dem Aufruf der Wurfscheibe zu beteiligen. Die väterlichen Ehren achteten sie geringe, hellenischer Beifall dünkte ihnen das Höchste. Diejenigen aber, um deretwillen sie sich mit den schwierigsten Verhältnissen umgaben, deren Lebensart sie eifrig nachstrebten, und überhaupt, denen sie gleich werden wollten, die gerade waren ihre Feinde und die Rächer ihres Abfalls; denn gegen göttliche Gesetze zu freveln, ist nichts Geringes. Das aber offenbart erst die folgende Zeit. Ist´s eine alte Geschichte? Wenn dich der religiöse Verfall im jüdischen Kreise mit Schmerz und Trauer erfüllt, wenn du an unserer Zukunft verzweifeln möchtest, wenn du zagend ausrufst: war´s schon so arg zu Israel? dann schau auf diese Geschichte hin, siehe schon einmal vor zweitausend Jahren Hohepriester, Männer des jüdischen Heiligtums, Männer mit dem höchsten religiösen Amte betraut, selber die ersten Verräter an Gott und seinem heiligen Gesetze, die Gunst der Könige durch religiösen Verrat erbuhlen, Verführer des jüdischen Volkes und seiner Jugend, wetteifern mit den „Wohlhabenden und Gebildeten“ ihres Volkes in Verachtung göttlichen Gesetzes und jüdischer Sitte, in Verehrung und Pflege unjüdischer Weise und unjüdischer Bildung, - siehe schon einmal vor Jahrtausenden Bildungsschimmer und politischer Vorteil, „Bürgerrecht“ von Israels Verführern als Köder zum Abfall von Gott und seinem heiligen Worte missbraucht – und siehe wie dennoch diese Zeit des Verrates und des Abfalls überwunden worden, welche Jahrhunderte, Jahrtausende der Treue, der Hingebung, der Aufopferung für Gott und Judentum ihr doch gefolgt – und lerne: vertrauensvoll in die Zukunft blicken. Denn siehe, dieser Abfall, von welchem dir soeben jene Stimmen aus alter Zeit berichteten, war kein von außen provozierter Abfall, war keine Folge des antiochischen Wütens gegen das Judentum; dieser Abfall der jüdischen Gotteslehrer und der höheren gesellschaftlichen Schichten in Judäa war ein freiwilliger, ging jenem Königswüten voran, ja, war ganz eigentlich Veranlassung, ja Urheber des späteren judenfeindlichen Fanatismus. Selbst nicht im Wahnsinn wäre es dem Antiochus eingefallen, Judentum und Juden griechisch reformieren zu wollen, hätten ihm nicht Juden und Judentumspriester zuvor gezeigt, dass bereits das Judenrum in ihren Herzen den Boden verloren, dass sie nur auf Königsbefehl harrten, um den Zeus auf des Ewig einzigen Altar zu stellen – und dass somit gewiss das Volk, die niedere Schicht, leicht hinüber geködert – und hinüber gemartert werden könne! So ist´s in den dunkelsten Jahrhunderten der Verfolgung keinem Machthaber eingefallen, Juden und Judentum reformieren zu wollen. Juden verfolgte man, aber an die Ewigkeit des Judentums glaubte man selbst. Priester und Jünger des 19. Jahrhunderts mussten erst selbst den Fürsten und Völkern das Schauspiel abtrünniger Juden vor die Augen führen, ehe ein Staatsmann an Reformierung des Judentums durch Dekrete und Maßregeln denken konnte. Natürlich! Achte dich selbst, achte deine Vergangenheit, achte dein Heiligtum selber, und wie man auch über dich denke, ob man dir geneigt oder abgeneigt sei, Achtung wird man dir nicht versagen. Achtest du aber selber dich nicht, blickst du selbst mit Verachtung auf die Gräber deiner Väter, hältst du dein eigenes Heiligtum nicht der Achtung, kaum der Kenntnis mehr wert, wie willst du, dass der Fremde dich achte und deine Väter achte? – Vieles magst du in der Welt finden, um Achtung bettelst du dann vergebens. Aber wie hatten „die Männer des Fortschrittes,“ „die Männer der Bildung,“ „die Priester der Reform,“ die politischen Religionshändler der antiochischen Zeit in Judäa sich verrechnet! Hörst du nicht, was dein Makkabäerlicht dir erzählt? Soweit hatten es die abgefallenen Söhne Judäas gebracht, dass zuletzt die Griechen selbst das Gottesheiligtum zum Zeustempel entehrten. Alle Öle der heiligen Gotteslampe hatten sie entweiht. Nur ein Krügchen fanden die siegenden Hasmonäer noch unentweiht; doch es reichte nur für einen Tag. Aber an diesem Einen Krügchen zeigte sich die rettende Wundermacht Gottes. Acht Tage lang versorgte man damit die heilige Lampe, bis man neues Reines bereiten konnte! Lass sie immerhin fanatisch gegen Judentum wüten, mögen links tausend und Myriaden rechts vom Judentum abfallen, so lange sie nicht den letzten Funken Judentum in der Brust des letzten Juden im letzten jüdischen Dorfe zertreten haben, so lange mögen wir, kurzsichtige Sterbliche, zittern; ein reiner Funke, in einer jüdischen Brust treu bewahrt, genügt Gott, um daran den ganzen Geist des Judentums wieder zu entflammen. Und wenn alles Öl, alle Kräfte, die das Gotteslicht in Israel nähren sollten, dem Lichte des Heidentums verfallen wären, ein Krügchen Öl, eine unter hohenpriesterlichem Siegel still und unentweiht in einem vergessenen Winkel treu gebliebene Brust genügt, um, wann Zeit und Stunde gekommen, das Heiligtum zu retten. „Und wenn schon alle Länder Antiochus gehorsam wären und jedermann abfiele von seiner Väter Gesetz, und willigte in des Königs Gebot: so wollen doch ich und meine Söhne und Brüder nicht vom Gesetz unserer Väter abfallen!“ sprach die treue Hasmonäerbrust eines Heldengreises – und Israels Heiligtum war gerettet. Darum gehe hin und zünde dein Licht an am Makkabäerfeste. Dass man es in deiner Synagoge, in deinem Tempel anzündet, das genügt nicht; „zu Hause du und dein Haus ein Licht!“ ist die Chanuckapflicht. Was kann es nützen, wenn wir in den Tempeln Hallelujas singen, wenn wir in den Tempeln in vorüber rauschender Andacht uns Juden nennen, wenn unsere Häuser unjüdisch sind, und wir zu Hause nicht des Lichtes des jüdischen Geistes warten. Nicht aus den Tempeln kam unser Heil und nicht aus den Tempeln kommt unser Heil; aus den Häusern kommt die Rettung. Wie deine Prediger predigen, wie deine Sänger singen, das macht´s nicht aus, wie deine Kinder und Säuglinge lallen, ob jüdischer Geist ihnen leuchtet, objüdischesMark sie kräftiger, ob jüdisches Leben sie erzieht, siehedarin liegt der Sieg und das Heil. Das Tempellicht? Die eigenen jüdischen Hohenpriester hatten es verraten. Das Licht in Mathathias Dorfstube war die Rettung. Zu Hause zünde darum dein Licht an. Und da achte dein Haus nicht gering. Und wärest du selbst der Einzige, der noch den alten Makkabäergeist in seinem Hause bewahrte, ein einzelner Jude, ein jüdisches Haus ist zuletzt selbst genug, um darauf das ganze jüdische Heiligtum wieder zu erbauen. Ja, je weniger Genossen du hättest, je mehr rings um dich der Hasmonäergeist wiche, umso treuer warte du sein, um so ernster bereite du ihm eine Zufluchtsstätte in deinem Hause. Aber vergiss es nicht: „du und dein Haus“, lautet die Forderung. Willst du für´s Judentum gelebt haben, darf es dir nicht genügen dich mit jüdischem Geist zu durchdringen; nur wenn du den jüdischen Geist in deinem Hause vererbt, hast du fürs Judentum gelebt, - und wenn du wie die Mohedrin deine Aufgabe recht verstehst, wird es dir nicht genügen, nur im allgemeinen das Licht des Judentums in deinem Hause leuchten zu lassen, wirst du anzünden, wirst auf jedes Kind, jedes einzelne Glied deines Hauses deine volle Aufmerksamkeit richten, es für´s Judentum zu gewinnen und das jüdische Licht in ihm fortleuchten zu lassen. Mathathiahu konnte ruhig sterben, er wusste, wer von seinen Kindern ihn auch überleben werde, Jochanan oder Simeon, Jehuda, Eleaser oder Jonathan, in jedem war die Flamme des jüdischen Gotteslichtes lebendig. Und stille wirst du nimmer stehen in diesem heiligen Streben, wirst dich nie begnügen mit dem, was du bereits gestern getan, immer vorwärts wirst du streben, immer heller solls in deinem Hause werden, und wenn du gestern ein Licht angezündet, zündest du heute zwei dir an; denn du weißt es ja: den Fortschritt, nicht den Rückschritt gilts im heiligen Streben, und wenn irgendwo, so heißt es hier, wer nicht fortschreitet, geht zurück! Und was du still im eigenen Hause wirkest und schaffest, das wird hinausleuchten über die Grenze deines Hauses, und das freundlich heitere Gotteslicht deines Hauses wird auch den Nachbar wecken zu gleicher lichterfüllten, jüdischen Häuslichkeit. Wirst dich nicht schämen Jude zu sein, wirst stolz darauf sein, dass man in dir, und deinem Hause den Juden erkenne, wirst dich nicht scheuen, dein jüdisches Licht über die Gasse leuchten zu lassen, und nur in der Ungunst der Zeiten, dich damit begnügen, wenigstens dein Haus für´s Judentum zu erhalten, und den Tisch deines häuslichen Lebens zu einem Altare des Gottesheiligtums zu weihen. So zünde denn Licht an in deinem Hause, und es sei dein und der Deinigen Weg, der Weg der Gerechten, wie strahlendes Licht, immer heller, immer lichter bis zum vollen ewigen Tage.